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August 2017
Bremen. Martin, Jana und ich besuchen meine ältere Tochter Lisa, die in Bremen wohnt. Den Abend gestern haben wir zusammen verbracht. Meine jüngere Tochter Jana übernachtet die drei Tage, die wir in Bremen sind bei ihrer Schwester gegenüber vom Hotel in einer Dreier-WG. Um 14 Uhr sind wir verabredet und Lisa will uns Bremen zeigen. Wir freuen uns. Nach langem Ausschlafen sitzen wir um 12 Uhr noch im Frühstücksrestaurant, welches glücklicherweise bis 14 Uhr Frühstück anbietet. Da passiert es.
Die Horde
Eine Horde optisch überangepasster Langweiler überfällt die Hotelbar nur wenige Meter gegenüber dem Restaurant. Verwaltungsangestellte auf Betriebsausflug. Mitte 40 bis Mitte 50. Wir sitzen, frühstücken und reden. Die Horde säuft. Ist laut. Schrilles Lachen. Inhaltsleeres Gelaber. Baltzgehabe. Wenn ich vorm Affenfels des Zoos sitze, kann ich Gleiches beobachten.
Fünf Tage die Woche Anträge falten, Kaffee trinken und Bürger ärgern, ein Wochenende im Jahr mal so richtig die Sau rauslassen. Mich schüttelt dieses ekelhafte Benehmen. Und es passt so gar nicht zum ruhigen Ambiente der Bar und belästigt sichtlich die Leute, die noch im Restaurant frühstücken. Die Mimik des Barkeepers ist eindeutig. Wir trinken schnell unseren Tee und verbringen lieber noch ein bisschen Zeit im Zimmer, bis wir uns mit Lisa und Jana treffen.
Pünktlich um 14Uhr holen uns die Zwei im Hotel ab und wir haben einen total schönen Tag in Bremen. Lisa ist sehr an Geschichte interessiert und erzählt uns viele Geschichten über Bremen, während wir durch die sonnige Altstadt laufen.
Spät kommen wir wieder am Hotel an und verabreden uns für den nächsten Tag wieder im Hotel. Schnell schlafe ich ein. Gegen vier Uhr nachts wache ich auf. Lärmendes Gegröle auf dem Flur, Zimmertüren werden geknallt. Schrilles Lachen. Das dauert gefühlt ewig.
Der nächste Morgen. Ich sitze im Frühstücksrestaurant an einem Vierertisch – alleine. Laptop auf, Buch, Papier, Tee. Warte auf Martin, der noch duscht. Ich habe mir eine ruhige Ecke gesucht, denn Martin und ich haben uns vorgenommen, ein bisschen beim Frühstück zu arbeiten. Ein gemeinsames Projekt weiter entwickeln.
Eigentlich bin ich gar nicht so…
Da überfällt ein Teil der Horde laut lärmend den Frühstücksraum. „Nicht zuerst an die Bar?“ denke ich böse. Sie setzen sich direkt an einen 6er Tisch neben meinem Tisch. „Muss das wirklich sein?“ fragt sich die Erfahrung des gestrigen Mittags in mir. „Ok Tanja, wir sind ein freies Land, da darf jeder…“ denkt es weiter in mir. „Aber: Moment! Schreit das Volk nicht gerade in diesen Tagen nach Abgrenzung, will die Grenzen gegen Geflüchtete dicht machen?“ Ich fühl mich eh schon eingesperrt unter dem ganzen „Grenzen dicht machen-Gebrüll“, führt es doch schön vor Augen, dass wir nicht Eine-Welt sind, sondern wir schön auf unseren Vorteil bedacht sind und unseren Reichtum schützen und verteidigen müssen. Aber Grenzen funktionieren nicht nur in eine Richtung. Egal, ich schweife ab. Also zurück zum Frühstückstisch.
Die Horde meint – so unter sich: „Wenn Horst und Gaby noch kommen, die können sich ja dann noch dahin setzen, da ist noch frei.“ Sie zeigen auf meinen Tisch.
„Ähm… nein. Horst und Gaby werden sich garantiert nicht an meinen Tisch setzen“, denke ich. „Karl, Johanna, Khaled, Pierre, Alev, Elfriede oder Ernst gerne. Aber nicht Horst und Gaby.“ Da zieh ich meine Grenze. Diesen Stumpfsinn ertrag ich an meinem Tisch heute morgen nicht.
Ich denke nach.
Aber warum schreib ich das jetzt hier am Tisch gerade, während die Horde neben mir nicht das Frühstück genießt, sondern lärmt?
Darum:
Tadaaaaa…
Die Anderen
Auftritt: Mann und Frau. Jung. Attraktiv. Beide. Er wilde Locken. Sie Dreads. Beide ganzkörpertätowiert. Sehr auffällig.
Sie schlendern gemütlich Hand in Hand in den Frühstücksraum. Suchen sich einen guten Platz. Er bietet ihr Platz an, schiebt ihren Stuhl ran. Sie frühstücken. Die Horde: Glotzt. Starrt. Und fängt an, sich das Maul zu zerreißen. Über die Unmöglichkeit „so“ herumzulaufen. Wörtlich: „Ekelhaft. Wie kann man nur am ganzen Körper tätowiert sein. Das muss eine Sucht sein, sonst macht man das ja nicht. Ich hab da mal im Fernsehen von gehört…“
Und die bösen Tätowierten? Sitzen ruhig am Tisch, frühstücken und unterhalten sich. Ich kann den Inhalt nicht verstehen, aber bestimmt nicht so unsinniges, stumpfes Zeug wie die Horde am Nachbartisch.
Ich könnt grad so kotzen. Der Horde direkt auf den Tisch.
Mein Gedankenkarusell springt an. „Soll ich was zu der Horde sagen?“ Ich würde sie nur beleidigen. „Soll ich mit Ihnen ins Gespräch kommen?“ Ich denk mir: „Hopfen und Malz verloren.“ Ich verachte sie für Ihr Benehmen und fühl mich selbst grad schlecht, weil ich sie so wenig sein lasse, wie sie die anderen. Die Grenze in meinem Kopf wächst. Ich möchte zu dem jungen Paar gehen und mich mit Ihnen unterhalten, mich mit Ihnen solidarisieren. Ich tue das natürlich nicht. Sie bekommen das Gelabere nicht mit und sie wollen ja nur in Ruhe frühstücken
.
Ich habe zum ersten Mal im Leben das Gefühl, dass ich mich äußerlich abgrenzen will. Abgrenzen von Menschen, die sich benehmen, wie offene Hosen, aber sich über andere so offensichtlich das Maul zerreißen, die ihrem Bild nicht entsprechen. Denn oft seh ich aus wie die optisch überangepassten Langweiler. Wie ein Spießer eben, obwohl ein kleines Punkrockherz in meinem Körper schlägt. Man sieht es mir meist aber nicht an und jetzt – genau jetzt möchte ich es ändern. Um Zeichen zu setzen und nicht verwechselt zu werden. Da gibt es nur ein Problem: Ich gefalle mir so. Und es kann nicht sein, dass ich mich ändern muss, nur um mich optisch abzugrenzen.
Die Moral
Nichts gegen Spießer im Allgemeinen. Nur gegen Idioten. Und gegen Spießigkeit. Und für Toleranz. Ich werde deswegen aber nicht ganzkörpertätowiert. Das muss anders gehen. Ich weiß noch nicht, wie. Aber das finde ich noch heraus!
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